Der agile Mitarbeiter im digitalen Strudel
NZZ – Nicole Rütti 6.12.2018, 07:00 UhrManagementtheorien wiederholen sich in regelmässigen Zeitabständen. Derzeit gilt das agile Unternehmen als erstrebenswerte Organisationsform. Wie gehen Mitarbeiter mit den Umwälzungen um? Besonders ältere?
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Auszug aus dem Artikel ältere Mitarbeiter betreffend siehe folgend: …
Gestresste Mitarbeiter?
Und wie geht der Mensch mit den Umwälzungen am Arbeitsmarkt um? Glaubt man Umfragen von Gesundheitsförderung Schweiz oder der Gewerkschaft Travail Suisse und der Berner Fachhochschule Schweiz, so ist das Stressniveau für die Arbeitnehmer jedenfalls nicht vernachlässigbar. Rund 30% aller Erwerbstätigen in der Schweiz empfinden den Arbeitsstress als «starke» oder «eher starke» Belastung. Es wäre allerdings falsch, dies allein den sich laufend ändernden Organisationsformen, der Digitalisierung, den Restrukturierungen oder der zusehends geforderten Flexibilisierung anzulasten.
Für Michael Weiss, Inhaber der Firma Analystra, ist die Hauptursache eher eine andere. Der Stresspegel der Mitarbeiter hänge primär davon ab, wie Unternehmen mit Veränderungen umgingen, wie sie diese kommunizierten und anpackten, erklärt der Experte. Weiss, der Firmen in Veränderungsprozessen berät sowie Mitarbeiter und Führungskräfte coacht, beobachtet, dass die Angestellten bei der sich häufenden Kadenz an Reorganisationen oftmals nicht mitkämen.
Diskussionen fänden auf hohem theoretischem Niveau statt. Begriffe wie «agile Organisation» seien schwammig. Jeder verstehe darunter etwas anderes, führt Weiss aus. Diese Problematik werde von der Unternehmensleitung nicht immer erkannt. Der Erfolg einer Reorganisation hänge jedoch stark davon ab, inwiefern es dem Management gelinge, die Mitarbeiter von der Notwendigkeit von Veränderungen zu überzeugen und sie bei der Integration solcher Projekte an Bord zu holen. Doch der kommunikative Austausch und das Coaching blieben oftmals auf der Strecke, erläutert der Prozess-Spezialist.
Dies hänge damit zusammen, dass auf der Führungsebene zusehends Angst verbreitet sei. Bei der Einführung von Lean Management und flachen Hierarchien stellten sich Kaderkräfte jeweils die Frage: «Und was passiert mit mir?» Gleichzeitig befürchteten sie, dass sie in neuen Organisationsformen wie autonomen Teamstrukturen die Kontrolle über ihre Mitarbeiter verlören.
Das Problem sei, dass viele Mitarbeiter und Führungskräfte mit dem Tagesgeschäft ausgelastet seien. «Sind sie dann zusätzlich gefordert, sich bei der Implementierung von neuen Organisationsformen und Digitalisierungsprozessen aktiv einzubringen, leidet die Umsetzung», sagt Weiss.
Ältere reagieren gelassener
Oft wird angenommen, dass vor allem ältere Mitarbeiter mit Veränderungsprozessen Mühe haben und bei der Digitalisierung auf der Strecke bleiben. Der Coach, der für Firmen auch viele ältere Personen bei der beruflichen Neuorientierung begleitet, widerspricht: Zwar müssten ältere Arbeitskräfte im Vergleich mit den Digital Natives bei der Anwendung moderner Kommunikationsmittel grössere Defizite überwinden, erklärt Weiss.
Komplexere Arbeitsmittel, neue Kommunikationstechniken, moderne Organisationsstrukturen oder schnell wechselnde Aufgabenbereiche verlangten jedoch allen Mitarbeitern viel ab. In der Regel reagiere die Generation 50 plus darauf sogar eher gelassener, im Sinne von: «Jetzt gibt es halt eine weitere Restrukturierung.» Ältere Arbeitskräfte hätten mehr Kraft, mit Druck umzugehen, und könnten ihn durch ihre Erfahrungen abfedern, erzählt Weiss gestützt auf seine Coaching-Erfahrungen.
Die Erhebung von Travail Suisse scheint diesen Befund zu bestätigen. Ältere Arbeitnehmer (40- bis 65-Jährige) berichten eher über vorteilhaftere Arbeitsbedingungen sowie positive Arbeitseinstellungen und sind laut eigenen Angaben weniger emotional erschöpft. Dagegen fühlen sich die 25- bis 39-Jährigen durch hohe berufliche und private Belastungen besonders herausgefordert.
Dass kontinuierliche Weiterbildung im Berufsalltag des digitalen Zeitalters als unerlässlich gilt, ist mittlerweile eine Binsenwahrheit. Das Konzept des «lebenslangen Lernens» ist in der Personalführung zum neuen Dogma erhoben worden. Doch gerade die ältere Generation wird hierbei im Urteil von Weiss noch zu oft alleingelassen.
Dabei appelliert er aber auch an die Mitarbeiter
, von sich aus aktiv zu werden: «Nicht warten, bis Defizite auffallen, sondern sich rechtzeitig um die notwendige Ausbildung bemühen», lautet sein Ratschlag. Gleichzeitig ermuntert er auch ältere Erwerbstätige, neue Wege zu gehen, wenn die Arbeitssituation nicht mehr stimme.